Berlin, da will ich hin! – Leichtathletik vom Feinsten bei der EM, ein Erlebnisbericht

4. September 2018

Es ist immer wieder erstaunlich und um sich die Augen zu reiben, wenn man nach Berlin kommt. In meinem Fall waren es diesmal die Europameisterschaften der Leichtathletik die den Anlass gaben. Nicht als Teilnehmer, da hatten sie mich vergessen, aber als Zuschauer, da durfte ich gegen Gebühr gerne dabei sein. Berlin ist immer „mehr“, ist und bleibt Brennpunkt der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre. Und wenn man die neueste Entwicklung betrachtet, Architektur, Kultur…, dann hat Berlin nach dem Mauerfall eine bemerkenswert positive Entwicklung gemacht, seine Nischenexistenz als Relikt vergangener Zeiten am Tropf der Bundesrepublik nur finanziell noch nicht verlassen und hat sich nunmehr zu einer der beliebtesten Städte weltweit entwickelt. Manchmal schon zu international, vor allem, wenn man in jeder Bierknelle zuerst englisch angesprochen wird. Für mich dann ein Spaß in „rääächdem Didsch“ zu antworten; Kulturkampf auf höchstem Niveau. Trotz Leichtathletik, es wäre Verschwendung, wenn man die Stadt nur aus sportlicher Sicht besuchen würde. Und bei herrschenden 38 Grad kocht die Stadt auf allen Ebenen. Auch im bis zum Mauerfall verschlafenen Ostteil der Stadt, wohin heute das eigentliche Zentrum sich verschoben hat, mit der Achse Alexander-, Potsdamer Platz, bis hin zum Reichstag. Kudamm, Breitscheidplatz etc. haben harte Konkurrenz bekommen. Diese wurden aber geschickt für die EM genutzt. Siegerehrungen, verschiedene Wettkämpfe wurden dort sogar ausgerichtet. Und immer mit großer Begeisterung des Publikums, das sich über all die Tage an allen Orten sensationell zeigte. Dank guter Medienpräsenz, vor allem im TV, war plötzlich Leichtathletik die Sportart Nummer 1. Unglaublich, denn üblicherweise wird sie fast nur noch wahrgenommen, wenn ein Weltrekord droht (um gleich darauf wieder über „Doping“ zu lamentieren) und die allseitige Dauerberieselung mit Fußball entweder zunehmend den Zuschauern aus Augen und Ohren quillt, oder alle Ligen nur noch Sommerpause bieten können. Die Leichtathletik hat mich schon immer wieder nach Berlin geführt. Als Zuschauer und als Trainer. Athleten des SVF waren dort schon am Start, wie Stefan Seifried mussten er damals noch ein fremdes Land namens DDR durchqueren, um im Olympiastadion zu deutschen Meisterschaften anzutreten. Tobias Rub wurde auf der blauen Bahn als Baden-Württembergischer Meister bei der Jugend-DM präsentiert. Im Olympiastadion ist das immer etwas Besonderes, auch in meiner Zeit als Trainer. Ein Stadion, das ich selbst für das schönste der Welt halte und schon alleine die Überlegung, dieses der Laufbahn zu berauben für mich einen Schrecken einjagt. Es muss nicht alles auf dem Altar des Kommerzes geopfert werden. Alleine das Stadion selbst, mit seiner eigenen Geschichte und Architektur sollte Respekt verschaffen und wenn man in den Rängen sitzt, die Athleten nicht nur auf der grünen, sondern auch auf der blauen Fläche verfolgt, dann spürt man das eigene, unglaublich tolle Flair dieses Stadions. Gänsehaut pur. Wenn dann die Athleten gefeiert werden erst recht. Wie es in der Leichtathletik üblich ist, es werden alle gefeiert, aber die eigenen etwas mehr. Ich sah die Speerwerfer unmittelbar vor mir, hatte den Hochsprung der Männer vor der Nase und die Hürdenläuferinnen zwar diagonal weit entfernt, aber dann eben direkt auf der Leinwand. Und egal wie, man war immer mitten drin, denn das Publikum ließ den deutschen Athleten keine Chance für schwache Leistungen. Eine Resonanz von Leistung und Unterstützung. Dadurch hatte man das Gefühl, dass die Leistungen und Medaillen nicht nur deren Ergebnisse sind, sondern auch ein wenig die eigenen, denn als Publikum gaben alle ihr Bestes.

Wer die EM verfolgt hat, der weiß, dass dies jeden Tag und überall galt. Das will ich wieder! Und die neue Präsentation mit anderen Sportarten zusammen ist eine dermaßen gute Idee, dass man sich ärgert, dass noch niemand früher darauf gekommen ist. Am Donnerstag begann es zum Ende der Veranstaltung zu regnen und ein imposantes Gewitter zog auf. Der Veranstalter hat darauf vorbildlich reagiert und die Zuschauer aufgefordert, das Gewitter im Stadion auszusitzen. So gab es nach dem letzten Startschuss noch eine Stunde Party mit Musik. Die Ansager mussten plötzlich in neue Rollen schlüpfen und präsentierten nunmehr Partylaune pur. Als das Gewitter sich verzogen hatte, taten dies auch die Zuschauer. Und wir auch, vorbei an einer nach wie vor gelangweilten Polizei. Das ist auch gut so. Schon zu Beginn der Veranstaltung zeigten sie sich mehr als Veranstaltungshelfer, machten mit den Zuschauern Späße und feixten. Wie ich auch hatten sie wohl noch nie von Zuschauerausschreitungen bei einer Leichtathletikveranstaltung gehört und sie hatten, wie alle, einen schönen Abend.

 

Nach einem „one beer please“ in einer „traditionellen“ Eckkneipe ging es zurück in unser Hotel, welches bereits zu Honeckers Zeiten als großes Prestigeobjekt angelegt war, nach wie vor geschmückt und dekoriert mit nostalgischem Allerlei der vergangenen Epoche des real existierenden Sozialismus. Und man fühlte sich gleich an die „Errungenschaften des Proletariats, in friedliebender Verbundenheit im antiimperialistischen Kampf, eins mit den Genossen der Sowjetunion…“ erinnert; den Lift hätte ich locker auf der Treppe überholt, der Wasserhahn wackelte und die Klimaanlage sorgte für ein Klima, das sich anstrengte die draußen herrschende Hitze zu übertrumpfen; und das 150 Jahre nach Marx. Der arme hatte ja soo recht.

 

Auf der Heimfahrt im Zug verfolgte ich die noch laufenden Wettkämpfe im Internet. Liveticker, Livestream, die Medienpräsenz der EM war vorbildlich und Modell für weiteres. Neben mir saßen zufällig Leichtathleten aus Oppenau und ihr Resümee war in gleicher Weise begeistert: Leichtathletik in Berlin, da will ich wieder hin!

 

Gunter Wolf

  

SV Freistett